Sonntag, 8. Mai 2016

Rundfunkhilfen. Aus alten Tagebüchern



18.4.1959 Eine gute Entdeckung habe ich gemacht: ein ausschließlich kulturell bestimmtes Rundfunkprogramm vom NWDR. Gestern hörte ich einen philosophischen Vortrag über den Einfluss der Phänomenologie auf das moderne Denken, besonders auf Sartre und Heidegger. Ich ahne ungefähr, wie wichtig diese Betrachtungsweise ist. Ich habe alles mitgeschrieben und werde es mir in stillen Museumsstunden zu Gemüte führen.
2.6.1959 Im dritten Programm des Nordwestdeutschen Rundfunks gibt es jeden Abend Vorträge über jüdische Mystik, und ich finde dieses Gebiet so interessant, dass ich ganz neugierig und erwartungsvoll am Radio sitze und nach Art einer Vorlesung alles, was ich festhalten kann, mitschreibe. Das ist eine gute Möglichkeit, den Horizont trotz des allgemeinen Büchermangels zu erweitern, und am nächsten Tag kann ich dann das Mitgeschriebene noch einmal nachlesen und vertiefen.

Samstag, 30. April 2016

Selbstfindung



Verlässt du nicht
die Väterwelt
wirst du ihr Opfer
sie bleibt dir kalt
auch bitt'rer Abschied
führt zur Liebe
und macht dich frei
von Staub und Hass
Was du ererbt
von deinen Vätern hast
verwirf es
um es zu besitzen

Dienstag, 19. April 2016

Aus alten Tagebüchern



5.3.1959 Unsere Nachbarn sind über Nacht verschwunden, und haben ihre Wohnung halb leer zurückgelassen. Sie sind, wie man so sagt, „abgehauen", in den Westen geflüchtet. Das Ehepaar und zwei kleine Kinder. Und wir haben davon nichts gewusst. Meine Mutter ist völlig außer sich, denn wir waren mit diesen Nachbarn eng befreundet. Eine Zeitlang haben sie sogar mit in unserer Wohnung gelebt. Wir können es nicht fassen. Die Schwester aus Rostock kommt, sie hat einen Wohnungsschlüssel, und sie holt noch einige zurückgebliebene Habseligkeiten heraus. Ich bin tief traurig, denn ich habe wieder Gesprächspartner verloren. Wer weiß, wer jetzt in diese Wohnung zieht...
14.3.1959 Unsere Nachbarwohnung ist nicht lange unbewohnt geblieben, nachdem sie von Beauftragten der Stadt leer geräumt wurde. Wohin sind die Sachen gekommen? Ein typischer Funktionär zieht ein, der außer einem kurzen Gruß kein Wort mit uns spricht. Mit Parteiabzeichen an fast allen Kleidungsstücken. Es wird sich keine Nachbarschaft ergeben... Mit wem kann man überhaupt noch ein Wort sprechen, das von den allein gültigen Parteinormen abweicht?

Montag, 11. April 2016

Aus alten Tagebüchern



Ostern 1960 Ich war zu einer Osterfeier, zu einem Ostererlebnis besonderer Art im Freundeskreis von T. in München eingeladen. Zum Osterlammessen nach jüdischem Vorbild.
Wir waren etwa 30 Leute. Alle saßen nebeneinander auf dem Fußboden rings an der Wand. Den ausgezeichneten Platz hatte Professor N. als „Hausvater". Er sprach die die alttestamentlichen Segenssprüche und reichte die Speisen herum, den Wein aus einem silbervergoldeten Becher, die Bitterkräuter, Meerrettich, Sellerie, Feldsalat - all das zur Erinnerung an die Bitterkeit der Knechtschaft des Volkes Israel in Ägypten, dazu Fruchtmus, in das Matzen und Selleriestückchen eingetaucht wurden. Schließlich das am Spieß über Holzkohlenfeuer zubereitete Lamm. Alles wurde mit der Hand gegessen. Dabei merkt man so richtig, wie dekadent wir sind, wie sehr uns der Komfort in eine erlebnisfeindliche Zwangsjacke von Zivilisation und „gutem Benehmen" presst. Es wäre natürlich unrealistisch, wollte man nun plötzlich wieder anfangen, ohne Messer und Gabel zu essen. Aber man muss ab und zu an das Zeichenhafte eines solchen Mahles denken, damit man die eigene Mitte wiederfindet.
Dieses Osterlammessen hatte für mich die Bedeutung eines Sakramentales. Es war nicht nur eine sinnenfällige Illustration des patriarchalischen Lebens der Sippe im Alten Testament, sondern eine erneuerte Darstellung der Auserwählung. Dies ist das kleine Häuflein, das im gemeinsamen Mahl das stärkste Zusammengehörigkeitsgefühl empfindet. Das das Wesentliche kennt, das über die Konvention hinausgewachsen ist.
Danach die Osternachtliturgie im „Venio", dem modernen Benediktinerinnenkonvent. Eine solche Begegnung ist wohl der letzte erreichbare Urgrund menschlicher Gemeinschaft. Man fühlt sich ganz lebendig und unmittelbar hineingenommen in die Communio Sanctorum, vermittelt durch die Liebe der anderen.
Von solchen Erfahrungen kann man auf Dauer leben. Mir ist vieles klar geworden über das Miteinander von Mensch zu Mensch. Der Kreis ist aus einer Gruppierung einer lebendigen Pfarrgemeinde hervorgegangen.  Keine besonders intellektuellen Leute, lauter gesundes Werktagsgewächs, gerade, ehrlich, schlicht.
Ich habe Übersetzungen von Martin Buber gehört, Psalmen, Patriarchengeschichten. Eine eigenwillige, plastische, sehr kraftvolle Sprache. Manche Ausdrücke wirken durch ihre Fremdheit ein wenig störend, ungewohnt. Welch mannigfaltige Möglichkeiten, Welten durch Worte auszudrücken!
Aus der Bamberger Apokalypse. Buchmalerei